Bahnhofsmission Kassel-Wilhelmshöhe

Plötzlich und unerwartet

von | Jan 26, 2024 | Archiv

Jede( r ) aus dem Team erinnert sich an sie:

die Frau P., den „Professor“, Clarissa, den Polen, die „Frau Doktor“. Jeder und jede von ihnen hatte ganz eigene persönliche Attribute, mit denen man sie gut beschreiben kann:

den Rollator, vollgepackt mit allen möglichen häuslichen Utensilien, etwas Essbares, vor allem aber eine Kanne für ihre Teebeutel, das heiße Wasser bekam sie von uns;

den „Professor“ erkannte man an seiner Fähigkeit, sich sehr gewählt auszudrücken und mit sonorer Stimme zu sprechen;

„Du siehst ja aus wie die Clarissa aus der Werbung“, hat zu ihr einmal jemand gesagt, und tatsächlich hatte sie ihren eigenen, gepflegten Stil; außerdem schmiedete sie gern große Pläne und kaufte, um Geld zu sparen, die eh schon preiswerten Artikel ein, die mittels Rabattmarken noch günstiger zu haben waren;

dann ist da noch der Pole, dessen Namen ich hier nicht nennen will, und der mit seiner Schlafmatte gern im Bahnhof sein Nachtlager aufschlug;

schließlich die mit den schönen Augen; schließlich war sie einmal Meerjungfrau, wie sie erzählte, „die Frau von“, auch „Frau Doktor“, genannt. Meist ein wenig grimmig unterwegs, nicht mit Klagen und Kritik sparend und doch aus der Bahnhofsmission nicht wegzudenken.

Was sie alle gemeinsam haben: Sie sind tot. Gestorben vor gar nicht langer Zeit. Plötzlich und unerwartet oder hier und da vorhersehbar.

Dennoch: als ich gestern die Mitteilung las, dass nun gerade auch „Frau Doktor“ gestorben ist, hat mich das berührt. Wie auch die anderen „Todesfälle“ zuvor.

Ich kannte sie alle ja nur vom Bahnhof. Aber ich wusste doch, dass die meisten von ihnen auch noch ein Leben jenseits der Wendeltreppe nahe Gleis 9 hatten, wo die Bahnhofsmission für ihre Gäste da ist.

Zum Glück oder Gott sei Dank, gab es andere, die sich weiter kümmerten, die aber ihren (zu frühen) Tod auch nicht verhindern konnten.

Diese unsere „Schäfchen“ haben unsere Nerven oft strapaziert; möglicherweise der eine oder die andere von uns auch deren Nerven, wenn es mal wieder nicht so ging, wie sie es gern gehabt hätten.

DENNOCH: Sie fehlen. Und es stimmt, was unsere Leiterin Karin Stürznickel-Holst im Blick auf die zuletzt Gestorbene geschrieben hat: „Ein Trost ist, dass sie sich bei uns, trotz aller Beschwerden, anscheinend beheimatet hat.“ Und das gilt nicht nur für „Frau Doktor.“

Eine kleine Anekdote zum Schluss: Als wir im vorletzten Jahr auf dem Bahnhof den Gottesdienst zum 1. Advent gefeiert haben, war sie aufmerksam dabei und stimmte gar unvermittelt ein Weihnachtslied an. Für den Text brauchte sie kein Liederblatt. Wir haben ihr alle zugehört und natürlich durfte sie die Strophe zuende singen.

Ade, Frau Doktor.

„Die Blätter fallen,
fallen wie von weit,

als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Rainer Maria Rilke

Foto: H. Wieboldt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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