Liebe Leser*innen,
am Wochenende hatte ich die Gelegenheit in meiner Heimatgemeinde eine Fastenpredigt über meinen bisherigen Glaubensweg zu halten. Mit Vorfreude, aber auch Bedenken, nahm ich dieses Angebot gerne an und teilte meine Glaubensüberzeugungen mit vielen Zuhörer*innen in der St. Gertrud Kirche. Auch freute ich mich dann am Dienstag einen Glaubensabend leiten zu dürfen und dort konnte ich ausführlich über die Arbeit der Bahnhofsmission in Kassel berichten. Der Abend stand dabei unter dem, vielleicht auch provokanten, Titel – „365 Tage Ohnmacht – Unterstützung durch die Bahnhofsmission in Kassel“. Hier kam ich mit den Gästen des Abends ins Gespräch und konnte über die täglichen Begegnungen in der Bahnhofsmission berichten.
Auch freute ich mich in diesem Zusammenhang, Spenden für die Arbeit der Bahnhofsmission sammeln zu dürfen, sodass wir weiterhin an unserer Arbeitsweise festhalten können.
Wenn es Sie interessiert, was ich zu meinem Glauben zu sagen habe, teile ich mit Ihnen gerne an dieser Stelle meine Fastenpredigt:
Liebe Gemeinde,
„Scheitern und Verstehen“ ist ein Albumtitel des Jahres 2012 von der Punkband Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern. Das Album ist eine der ersten Platten der Band und auf dem Cover können wir ein Beiboot sehen, welches sich durch starke Wellen kämpft. Auf dem Album thematisiert die Band Themen des Aufbruchs, der Rebellion und des Verlorengehens. Als ich gefragt wurde, meinen Glauben heute vor Ihnen zu bekennen, dachte ich sofort an diesen Titel – „Scheitern und Verstehen“.
Dieser Titel und der Ursprung bringen wohl am zentralsten meine Glaubensüberzeugungen auf den Punkt. Ich bin davon überzeugt, im Glauben meist dann gereift zu sein, wenn ich in den unterschiedlichsten Arten und Weisen scheiterte und dann nach neuen Perspektiven oder Impulsen suchte. Rekapituliere ich meinen bisherigen Glauben, so sind wohl insbesondere unkonventionelle Zugänge – so würde ich diese bezeichnen – Gründe für die Auseinandersetzung mit meinem Glauben. Ich kann Ihnen leider keine Lieblingsstelle aus der Bibel nennen, kein Gebet, welches ich in schweren Stunden spreche und kein christliches Lied, welches ich in freudigen Momenten auf den Lippen habe. Demgegenüber kann ich Ihnen aber unzählige Filmszenen, Buchstellen oder unter anderem auch popkulturelle Lieder nennen, in welchen wohl existenzielle Glaubensfragen aufgeworfen werden.
Hier könnten nun bereits erste Einwände kommen. Ist ein solcher Glaube nicht sehr beliebig? Kratze ich hier nicht nur an der Oberfläche, denn was kann in Filmen, Literatur oder Musik schon tiefgreifend – und wohl gemerkt christliches – verhandelt werden? Liebe Gemeinde, ich bin davon überzeugt, dass wir durch diese unkonventionellen Zugänge die Themen der Heiligen Schrift besser begreifen können als durch das reine Studium der Heiligen Schrift. Meine Erfahrung ist, dass die Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift ein Prozess des Scheiterns darstellen kann und oft auch vorab eingefärbt ist. Oft habe ich erlebt, dass ich erst im Kontakt mit anderen Menschen den vermutlichen Sinn der ein oder anderen Bibelstelle für mich erkennen konnte – sei es in der Familie, unter Freunden oder sinnsuchenden Menschen. Zu oft hatte ich fertige Bilder oder bestehende Regeln im Kopf, die einer ernsthaften Auseinandersetzung im Wege standen. Beispielsweise blieben mir oft Heilungserzählungen sehr fremd, da diese für mich immer eher mystisch waren, statt dem Zeichen, dass hier der Messias wirkt. Oft bin ich dabei nicht in der Lage, die historischen Codes zu decodieren und mir verständlich zu machen. Denke ich beispielsweise an die Heilung von Blinden, so meint das ursprüngliche Blindsein eher eine geistige Haltung, ein Verschlossen sein, statt den Verlust der Sehkraft. Schaffe ich es aber diese Codes zu entschlüsseln, können für mich beispielsweise diese Gleichnisse natürlich eine neue Bedeutung gewinnen, und zwar dahingehend, mich zu hinterfragen, wo ich verschlossen bleibe und etwas nicht wahrhaben will. In jüngerer Vergangenheit haben mir insbesondere die Texte des Theologen Peter Trummer geholfen, welcher es schafft nachvollziehbare historische Kontextualisierungen herzustellen, sodass mir die Codes der Bibel klarer wurden. Auch scheitere ich bei konfessionellen Fragen, welche ich nur randständig beantworten möchte. Eine eigene katholische Identität kann ich für mich nur sehr schwer definieren. Sicherlich spielt meine Herkunft hier eine Rolle, allerdings kann Sozialisation nur ein sehr schwaches Argument für ein konfessionelles Bekenntnis sein. Auch bleiben mir einige katholische Überlegungen fremd, beispielsweise dass Frauen kein Priesteramt übernehmen dürfen, wobei uns Frauen doch erst vom leeren Grab berichteten und die ersten Zeugen der Auferstehung waren. Gleiches gilt für irrsinnige Überlegungen über das Jenseits, beispielsweise dem Fegefeuer oder der Vorhölle. Glauben wir an den von Jesus verkündeten liebenden Gott, so muss ich mich geistig schon sehr verbiegen, warum ein solcher Gott uns brennen sehen will. Vor ein paar Jahren wurde hier mal ein Bild von einem Haus skizziert, in welchem alle Konfessionen unter einem Dach leben – jede Konfession hat zwar eine Tür, alle wohnen sie aber in Gottes Haus. Eine schöne Idee, wie ich finde, und der ich mich gerne anschließe. Wir sind alle Christen, nur richten wir vermutlich unsere Wohnungen etwas anders ein.
Doch wie ich bereits angedeutet habe, ist mein Glaubensweg insbesondere durch die von mir titulierten unkonventionellen Zugänge geprägt. Ich denke hier insbesondere an das Lied von Udo Lindenberg „Interview mit Gott“. Dieses Lied hat wohl meinen Glauben stärker geprägt, als ich mir selbst bewusst bin. Udo Lindenberg führt darin ein fiktives Interview mit Gott und das hat es dabei in sich. Er übernimmt dabei nicht nur die Rolle des Interviewers, nein, er übernimmt auch den Part von Gott. Der Interviewer teasert uns das wohl größte Comeback an: Gott wird wieder zu hören sein, denn er war ja schließlich lange weg. In den ersten Zeilen schafft es Udo Lindenberg bereits, erste existenzielle Fragen aufzuwerfen, welche ich mir auch schon oft gestellt habe. Wenn es Gott gibt, warum gibt er nicht einfach mal eine kurze Rückmeldung? Ein kurzes „ich bin noch da und denkt immer mal an die Bibel und was euch mein Sohn verkündet hat“ würde mir persönlich ja schon reichen. Ich denke hier auch an die Filme mit Don Camillo, welcher sich mit seinen Anliegen stets an Jesus richten konnte und von diesem auch Antworten bekam. Doch was würde man da wohl sagen oder fragen, wenn man die Möglichkeit, einen direkten Draht zu Gott, hätte? Ähnlich wie Udo würde ich wohl die Frage „Ey wieso lässt du uns so hängen“ stellen. Vielleicht würde ich es anders formulieren, doch die Quintessenz würde wohl gleichbleiben. Schließlich muss ich zunächst in Ungewissheit leben, ob hier nun wirklich ein Gott existiert, und zweitens passiert ja wohl genug auf der Welt, wo eine kurze Intervention denkbar wäre. Ich denke an internationale Krisen, an den grassierenden Populismus und an immer weiter auseinanderdriftende gesellschaftliche Klassen. Aber auch im Privaten können Momente des Scheiterns aufkommen, Momente, in denen ich mich hängen gelassen fühle. Beispielsweise wenn geliebte Menschen sterben, ohne dass man nochmal ein letztes Wort an sie richten kann. Ich denke an Personen, die ganz unten sind, die ich tagtäglich in meiner Arbeit in der Bahnhofsmission erlebe und wo man manchmal nur wie gelähmt dabei sein kann. Provokativ könnte man doch sogar so weit gehen zu sagen, dass das Leben, mit all seinen Widrigkeiten, Beleg genug dafür sein könnte, dass kein Gott, schon gar kein liebender Gott, existieren kann. Liebe Gemeinde, wäre ich dieser Ansicht, so würde ich heute hier vermutlich nicht vor Ihnen stehen. Ich glaube aber, dass diese Zweifel und diese Anschuldigungen uns erst richtig glauben lassen. Nicht zu Unrecht finden wir im Gotteslob das tolle Zitat von Karl Rahner „Glauben heißt: die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten“ – ich meine, dies bringt eigentlich schon fast alles auf den Punkt. Und nicht zuletzt liefert uns Jesus doch auch ein Plädoyer für das Zweifeln, indem er am Kreuz ausruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“.
Nun ist es aber an uns, einen Schritt weiterzugehen, den Schritt des Verstehens zu wagen. Ein Schlüsselbegriff in meinem Glaubensverständnis ist der des Vertrauens. Ich bin davon überzeugt, dass Gott in uns zunächst großes Vertrauen hat in dem, was wir tun. Es ist das Vertrauen, dass wir Menschen grundsätzlich gut sein können und selber zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können. Andernfalls wären wir als Menschen ja nur Marionetten auf einer gigantischen Theaterbühne. Dieses Vertrauen in uns sehe ich dabei auch als ultimativen Liebesbeweis an, indem er uns Menschen machen lässt, obwohl dabei oft genug die Liebe zu unseren Nächsten allzu häufig auf der Strecke bleibt. Ich möchte an dieser Stelle wieder das Lied von Udo Lindenberg zurückholen, bei welchem mittlerweile der Part Gottes angefangen hat. Passend zu meinen Überlegungen heißt es hier: „Wenn der Mensch nicht weiterweiß, dann macht er mir den Himmel heiß“. Wie oft habe ich in Gebeten schon angeklagt oder um ein Wunder gebeten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber in meinem Glauben kommt das vor. Und nun kommt ein zweites wichtiges Element meines Glaubens ins Spiel. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu oft nicht sehen, nicht hören oder fühlen können, wo Gott wirklich überall steckt. Wir sind oft gar nicht mehr für seine Gegenwart empfänglich. Mir kommen dabei sofort zwei Filmszenen in den Sinn, welche mich in diesen Ansichten bestärkt haben. Zunächst denke ich wieder an Don Camillo, welcher in die Hohen Berge Italiens verbannt wurde und dort auf einmal nicht mehr Jesus hörte. Erst durch eine aufwendige Rückholaktion seines alten Kreuzes konnte er wieder mit Jesus sprechen. Doch hier kommt der entscheidende Punkt: Es war sein Stolz, seine Uneinsichtigkeit, die ihn taub machten und nicht die Abwesenheit irgendeines materiellen Gegenstandes. Gott ist dort draußen und er äußert sich in den verschiedensten Geräuschen, für mich dabei insbesondere durch Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen – in der Familie, mit Freunden oder mit Gästen der Bahnhofsmission. Hier genau hinzuhören, jemandem seine Aufmerksamkeit zu widmen, dort kann man die Existenz Gottes in meinen Augen wirklich spüren. Gleiches gilt für die Ruhe. Auch hier können wir Gottes Gegenwart spüren und ihm nahe sein. Auch Jesus konnte nicht die ganze Zeit unterwegs sein und Leistung bringen, auch er zog sich zurück, suchte die Ruhe, um Gott nahe zu sein. Auch denke ich an den Film „Hudsucker – Der große Sprung“. Hier sehen wir in einer Szene Moses. Moses ist vermutlich ein Hausmeister, welcher sich in einem New Yorker Wolkenkratzer um die Turmuhr kümmert. Zu Beginn des Filmes sprang der Unternehmenschef trotz grandioser Ergebnisse ohne ersichtliche Gründe aus dem Hochhaus. Sein Nachfolger sollte eine Marionette werden, sodass das Unternehmen nicht in fremde Hände gerät. Und so findet sich ein scheinbar hilfloser Berufseinsteiger, die perfekte Marionette. Eine Journalistin vermutet solche Absichten und wollte diesen hilflosen Menschen entlarven und die wirklichen Absichten veröffentlichen. Aber sie hat nicht gefunden, wonach sie sucht, nicht ihre Vorurteile bestätigt gefunden. Sie traf für sich tatsächlich einen hilflosen, fremdgesteuerten Mann. Dann trifft sie schließlich auf Moses und erschrak zunächst vor ihm. Im Gespräch wollte sie nun mehr erfahren von diesem mysteriösen Mann, welcher scheinbar alles bei Hudsucker zu wissen scheint. Und Moses weiß auch mehr. Moses sieht, was wirklich in diesem neuen Mitarbeiter steckt und weiß was da noch schlummert. Und die Journalistin? Diese bleibt ratlos zurück und versteht nicht so recht. Auch hier erkenne ich mich wieder. Wie oft habe ich schon vorschnell mir ein Urteil über Menschen gebildet bzw. werde es noch machen, ohne dabei von den Menschen wirklich alles zu wissen. Wie oft hat mich ein äußerer Schein getäuscht und wie oft hatte ich dann doch Verständnis, als ich mehr wusste. Jemanden wirklich kennenzulernen ist für mich dabei auch der Ausdruck gelebter Nächstenliebe.
Liebe Gemeinde, wenn ich vom Glauben spreche, dann spreche ich vom Suchen und vom steten Fragenstellen. Kann ich in der Welt noch Gott sehen oder schaue ich nur rum? Höre ich seine Stimme, seine Forderungen oder kommt bei mir nur noch Rauschen an? Fühle ich noch Unbehagen bei den Ungerechtigkeiten dieser Welt oder sind sie mir egal geworden? Glauben heißt für mich beispielhaft, diese Fragen immer wieder zu stellen und nach Antworten zu suchen. Und das kann dauern. Diese Antworten können dabei sehr unterschiedlich ausfallen und auf dem Glaubensweg sicherlich auch revidiert werden. Aufmerksam zu bleiben, ist dabei stets das Gebot der Stunde. Auch hier möchte ich nochmal auf das Lied von Udo zurückkommen, in dem es heißt: „ich schickte euch doch immer schon die besten Topberater, ob es nun Jesus war, Ghandi, Einstein und auch noch den scheinheiligen Vater“. Wollen wir Gott finden und an ihn glauben, so müssen wir für unsere Mitmenschen sensibel bleiben, können in ihnen Orientierung finden und für ein gerechtes, liebevolles Miteinander streiten und damit Gottes Idee gerechter werden. Und ich glaube, dass diese Menschen unter uns sind und wir nicht immer nach den großen Galionsfiguren suchen müssen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Titel, Auszeichnungen oder Positionen eher hinderlich als nützlich sind. Betrachte ich mein Gegenüber als Kind Gottes und nicht als Ware, nicht als Wirtschaftsgut oder schlicht nach seiner Leistung, so habe ich die Möglichkeit, auch Gott in ihm begegnen zu können. Und hier meine ich wirklich alle Menschen, denn nicht nur Christen können uns Wege zu Gott zeigen. Denn Jesus hat durch seinen Tod die radikale Liebesbotschaft Gottes bekundet, sodass auch nach dem Tod ein Leben auf uns wartet. Diese Botschaft gilt dann auch allen Menschen und nicht nur einer kleinen, ausgewählten Gemeinschaft.
Indem wir unseren Glauben auch immer wieder hinterfragen, schaffen wir es, nicht in Routinen, nicht in Rituale abzurutschen, ohne zu wissen, was wir hier gerade eigentlich machen. Dahingehend blieb mir das katholische Eichfeld doch auch immer sehr fremd, da ich oft eher Routinen erlebte, einem „so machen wir das schon immer hier“. Wie befreiend war es in Kassel, mal Gottesdienste nur von Gemeindemitgliedern zu besuchen, diese Messen mitzufeiern und neu über den Glauben nachzudenken. Wortgottesdienste mitzufeiern, bei welchen das Wort im Mittelpunkt steht, stellen für meinen Glauben dabei eine totale Bereicherung dar.
In einem Punkt hat das Lied „Interview mit Gott“ allerdings einen Fehler. Am Ende des Liedes macht sich Gott auf den Weg, er muss los, denn ein Gott hat schließlich auch noch was anderes zu tun. Diesem stimme ich nicht zu. Bin es doch eher ich, der sich losmacht, der sich von Gott abkapselt, ihn nicht mehr hört, ihn nicht mehr sieht, ihn nicht mehr fühlt. Dann heißt es wohl wieder gescheitert sein, sich auf die Suche begeben und ihn wieder neu finden.