Bahnhofsmission Kassel-Wilhelmshöhe

Thüringen, keine Stunde entfernt

von | Sep 2, 2024 | Bahnhofsmission Kassel

Haben Sie in letzter Zeit auch Plakate mit folgenden Slogans gelesen: „… hat schon gearbeitet, bevor er mitgeredet hat“ (FDP), „Arbeit statt Bürgergeld!“ (CDU) oder „Remigration sofort starten“ (AFD)?

Keine Stunde mit einem Zug von Kassel-Wilhelmshöhe nach Thüringen,

etwas kuscheliger mit dem RE2 nach Erfurt oder etwas komfortabler mit dem RE9 nach Halle,

müssten Ihnen diese Plakate aus dem Thüringer Landtagswahlkampf bekannt vorkommen.

Bei mir rufen diese Plakate dabei die reine Irritation aus.

Zunächst irritieren mich die zunehmenden Verflechtungen der menschlichen Würde mit einem leistungsorientierten Arbeitsgedanken.

Statt arbeitslosen Personen, die stolz und egoistisch dargestellt werden,

begegne ich resignierten und schambehafteten Menschen,

die aus unterschiedlichen Gründen (meist Schicksalsschlägen wie Todesfällen, Trennung, Krankheit etc.) nicht in der Lage sind in einem Arbeitsverhältnis zu stehen.

Sind Menschen wirklich nur dann etwas wert, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen

bzw. haben sie nur dann ein Recht etwas zu sagen, wenn sie Arbeitserfahrungen haben?

Vielmehr nehme ich wöchentlich in der Bahnhofsmission Kassel wahr, wo ich mich seit Jahren ehrenamtlich engagiere, wie in der Öffentlichkeit nur ü b e r Menschen im Bürgergeldbezug gesprochen wird,

statt dass sie einmal selbst Auskunft über ihre prekäre Lage geben dürfen.

Sicherlich trägt Arbeit zu einem Sinn stiftenden Leben bei.

Menschen ohne Arbeit dann aber „als Menschen in der sozialen Hängematte“ zu diffamieren und sie in ihrer unveräußerlichen Würde anzugreifen, muss ganz klar zurückgewiesen werden;

denn das Bürgergeld soll ja lediglich das Existenzminimum für ein würdevolles Leben gewährleisten.

Zum Zweiten befinden sich unter unseren Gästen auch Personen mit Migrationshintergrund. Stelle ich mir hier eine „Remigration“ unmittelbar vor, so negieren wir die berechtigten Interessen der betroffenen Personen. Wir würden die Angst vor Krieg in und außerhalb von Europa negieren. Wir würden die Diskriminierungen von kulturellen Gruppen wie den Sinti und Roma negieren. Wir würden autoritäres Handeln anderer Staaten als vermeintliche Sicherheit missverstehen. Ist uns auch in diesem Fall der Würde-Begriff überhaupt etwas wert?

Heute am 1.9.2024 sitze ich nun ein wenig ratlos daheim und frage mich angesichts des Thüringer Wahlergebnisses, ob wir nicht den Demagogen unserer Zeit und unserer Gesellschaft auf dem Leim gegangen sind!

Während Mitarbeitende der Bahnhofsmission täglich den großen Baustellen unserer Zeit begegnen,

ob sie nun der materiellen Armut mit einem Kaffee begegnen, der grassierenden Einsamkeit mit einem Gespräch entgegentreten oder dem Gefühl einiger Gäste von einem Dasein zweiter Klasse widersprechen –

in allen Bereichen scheinen die Texte der Plakate und Slogans der entsprechenden Parteien realitätsfern, zynisch und würdelos.

Für mich bleibt zu hoffen, dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmissionen es schaffen,

den (Lebens-)Reisenden einen Bahnhof für Ruhe und Halt in ihrem aktuellen Lebensabschnitt zu bieten,

und dass wir es schaffen, auf unserer christlichen, humanistischen Mission, den Menschen würdevoll zu begegnen.

Von Moritz Bachmann, 24 Jahre alt, einem Thüringer, den es zum Studium nach Kassel zog und der sich seit 2021 in der Bahnhofsmission engagiert.

Moritz hat ein Bachelor-
Studium in Sozialer Arbeit abgeschlossen und schreibt derzeit an seiner Masterarbeit im Studiengang „Diversität – Forschung – Soziale Arbeit“ an der Uni Kassel.

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