„Vielmehr habe ich euch Freunde genannt“ (Johannes 15,15)
In den Bahnhofsmissionen nennen wir die Menschen, die zu uns kommen Gäste. Wir nennen sie nicht Freunde. An diese Wortwahl musste ich in der vorletzten Woche denken, als ich als Teil der Pilgergruppe aus dem Bistum Hildesheim in Rom vier Tage war. Teil des Programms war auch ein Besuch bei Sant’Egidio.
Die Gemeinschaft Sant’Egidio wurde 1968 von Schülern in Rom gegründet und ist inzwischen in 70 Ländern verbreitet. Grundpfeiler sind das Lesen in der Bibel, das gemeinsame wöchentliche Gebet, der Dienst an den Armen und ihr Engagement für Frieden an vielen Orten der Welt.
Bei den Armen – ob nun Obdachlose, Migranten oder einsame alte Menschen – geht es für die Gemeinschaft um eine Beziehung zu ihnen, die sie Freundschaft nennen. Mit der Bezeichnung „Gäste“ hat es gemeinsam, dass sie die Menschen einzeln mit ihrer Lebensgeschichte kennen.
Freund:in-Sein geht bei Sant’Egidio so weit, bei Mitgliedern zu Hause zu wohnen. Spätestens hier habe ich mich persönlich gefragt, ob ich so viel Nähe zulassen und aushalten könnte, ob ich so viel Zeit anderen, die Unterstützung benötigen, geben will.
Freund:in-Sein heißt in der Gemeinschaft von Sant’Egidio auch, dass Menschen, die Hilfe erhalten, zu Menschen werden, die selbst Hilfe geben. Da habe ich die Praxis in den Bahnhofsmissionen denken müssen, dass es Personen vor und hinter der Schranke oder dem Tresen gibt. Wollen wir diese Grenze aufheben? Mindestens für einige, die zum Dienst als „Bahnhofsmissionar:in“ geeignet sind und sich dafür interessieren?
Am nächsten Morgen ging mir durch den Sinn, dass die unerschiedlichen Formen von Beziehungen sicherlich ihre je eigene Berechtigung haben. Nur muss ich mir meiner Art von Beziehung, die für mich jeweils stimmig ist und „passt“, bewusst sein. Sicherlich ändert sich die Art der Beziehung zu unterschiedlichen Zeiten im Leben auch noch einmal. Aber schiebe ich damit nicht die Möglichkeit einer Freundschaft mit Menschen, die von den verschiedenen Formen von Armut betroffen sind, wieder allzu weit weg von mir?
Zu dieser Frage fällt mir der Ausspruch Jesu ein: „Vielmehr habe ich euch Freunde genannt.“ Jesus nennt seine engste Wegbegleiter Freunde, und nicht mehr Knechte. So viel Nähe und Gleichberechtigung ließ er für sich zu. Gemeinsam waren sie eine ganze Zeit lang miteinander unterwegs. Einige Freunde holte Jesus in seine Nähe. Es gibt auch Menschen, die nur einen einmaligen Kontakt zu Jesus hatten – etwa weil sie eine Frage an ihn stellten oder durch ihn eine lebens-wendende Hilfe erfahren haben. Letztlich können alle Jesu Freunde sein, die seinen Auftrag erfüllen:: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.“ (Joh 15,14). Und der Auftrag ist die Ermunterung zur gegenseitigen Liebe. So kommen bei Jesus noch weitere Bedeutungen von Freund:in-Sein hinzu.
Peter Nagel
Ehrenamtlicher „Bahnhofsmission Mobil“ Hildesheim

