Der Herkulesblick auf Alkohol und gesellschaftliche Stereotype
Liebe Leser*innen,
wann waren Sie zuletzt im Kino? Ich versuche möglichst wöchentlich einen Film in den Kasseler Kinos zu schauen und lasse mich dabei von den Kinofilmen in den Bann ziehen, um kurz aus dem Alltag auszubrechen und in andere Welten einzutauchen. In der vergangenen Woche besuchte ich den Film „The Outrun“, welcher den Kinobesucher*innen einen Einblick über den steten Kampf gegen eine Alkoholsucht zeigt – sofort dachte ich dabei an den ein oder anderen Gast unserer Bahnhofsmission!
Viele Menschen haben ein stereotypes Bild von obdachlosen Menschen, welches oft auch durch einen übermäßigen Alkoholkonsum gekennzeichnet ist. Als besonderes negativ Beispiel kann auch das „Pennergame“ genannt werden, wobei die Spieler*innen einen „Penner“ spielen sollen der durch das übermäßige Trinken von alkoholischen Getränken glücklicher wird. Auch sind wir Bahnhofsmissionare mit Menschen konfrotiert, welche mit einer Alkoholabhängigkeit zu kämpfen haben. Sei es das alkoholisierte Personen unsere Bahnhofsmission aufsuchen oder unsere Gäste vom Umgang mit einer Alkoholabhängigkeit berichten. Nun wäre es für uns natürlich ein leichtes den betroffenen Personen einen schwachen Charakter zu unterstellen und ihnen vorzuhalten, dass sie an ihrer Situation selbst Schuld seien. Der Film „The Outrun“ möchte ebenfalls ein Plädoyer dafür abgeben uns die komplexe Lebenslage alkoholabhängiger Menschen näherzubringen. Die Figur Rona wird dabei nicht eindimensional gezeichnet, sondern wir können sie in unterschiedlichen Rollen sehen und eventuell auch verstehen. So kümmert sie sich um ihren psychisch kranken Vater, versucht eine gute Tochter für ihre gläubige Mutter zu sein und verucht alles um mit ihren Freund glücklich zusammenzuleben.
Aus der Kasseler Bahnhofsmission fällt mir sofort Andi ein. Ich kannte ihn fast drei Jahre und er war ein regelmäßiger Gast in der Bahnhofsmission. Betrat Andi die Bahnhofsmission war selten Ruhe. Andi hatte immer etwas zu erzählen und konnte Gäste wie Mitarbeiter unterhalten. Einmal kam ich mit Andi etwas länger ins Gespräch, wo er mir dann auch von seiner Alkoholabhängigkeit berichtete. Ich bin unsere Wendeltreppe runtergegangen und habe Andi vor dem Bahnhof angesprochen, um ihn zu bitten seine alkoholischen Getränke nicht mit in die Bahnhofsmission zu bringen. „Selbstverständlich“ sagte er mir und freute sich ein wenig zu plaudern. Da erzählte mir Andi das er Vodka und das andere Zeug trinke, weil er viele schlimme Dinge erlebt hat. Am schlimmsten war wohl der Verlust seiner Frau, über welchen er nicht hinwegkommt. Der Alkohol half ihm dabei besser damit klarzukommen. Andi lebte hauptsächlich auf der Straße. Über den Winter lebte er in einem Notschlafcontainer, von welchem er liebevoll erzählte. Begeistert erzählte er mir auch von dem Luxus nun ein Radio zu besitzen, um wieder Musik zuhören.
Andi und Rona aus „The Outrun“ sind ihrer Alkoholabhängigkeit nicht verfallen weil sie schwache Menschen waren, sondern weil beide nach Auswegen aus der Realität gesucht haben. Gerade im Film wird zudem umso deutlicher, welch schweren Kampf abhängige Personen gegen ihre Sucht führen müssen. Der stete Kampf gegen die Sucht und der andauernden Angst vor dem Scheitern werden in „The Outrun“ nachvollziehbar visualisiert.
Im Film gibt es ein Happy End. Andi ist dies auf dieser Welt verwehrt geblieben. Im letzten Monat habe ich bei einem Besuch einer Tagesaufenthaltsstätte für obdachlose Personen in Kassel eine Kerze für ihn gesehen. Man erzählte mir, dass er gesundheitlich schwer angeschlagen von Straßensozialarbeiter*innen gefunden wurde und er wenig später im Krankenhaus, wohl auch aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit, verstarb. Auf der Erde hatte Andi leider keine Wohnung, hoffentlich hat er im Himmel ein schönes Zimmer mit tollen Radiosendern.
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Von Moritz Bachmann